Ein Schatten, der in die Zukunft ragt!
Am 26. April 2021 jรคhrt sich die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zum 35. Mal. Schรคtzungen der Organisation รrzte fรผr die Verhรผtung des Atomkrieges zufolge, kostete das Unglรผck inklusive der Langzeitfolgen zwischen 50.000 und 100.000 Menschen das Leben. Auch in Zukunft werden weitere Generationen vom Erbe des Kernkraftwerkes betroffen sein โ sowohl durch die Instandhaltung der Unglรผcksstelle, als auch durch gesundheitliche Probleme in den verstrahlten Gebieten.
Was dies fรผr die Menschen bedeutet, zeigen auch Regionen Weiรrusslands, in denen 1986 bis zu 70 Prozent des radioaktiven Niederschlags abregnete. Das Reaktorunglรผck fรผhrte dort zu einer Verstrahlung von einem Fรผnftel der landwirtschaftlichen Bรถden. Nach 35 Jahren haben die Isotope Cรคsium-137 und Strontium-90 ihre erste Halbwertzeit erreicht und es wird noch weitere 300 Jahre dauern, bis sie gรคnzlich zerfallen sind.
Von den Strahlungen betroffen sind auch nach der Katastrophe geborene Kinder, die stetigen kรถrperlichen und psychischen Belastungen ausgesetzt sind.
Weiรrussland setzt jedoch weiterhin auf Kernenergie und baut in Ostrowetz sein erstes Atomkraftwerk.
Elvira Mรผller
Nachstehend berichten zwei Frauen aus Polozk รผber ihr Leben vor und nach der Tschernobyl Reaktorkatastrophe.
รbersetzung aus dem Russischen am 06.04.2021 – Nelly von Branconi
Tschernobylโฆ

In der ganzen Welt wird der Name dieser Kleinstadt in der Ukraine, die sich 7 km von der sรผdlichen Grenze zu Belarus entfernt befindet, schon seit รผber drei Jahrzehnten mit der grรถรten technologischen Katastrophe in der Geschichte des Menschen verbunden. Die Explosion des Kernreaktors in Tschernobyl am 26. April 1986, die radioaktive Emissionen – vergleichbar mit denen von 50 Atombomben, wie sie auf Hiroshima geworfen wurde – verursachte, hatte grausame Folgen im Leben von Millionen von Menschen.
Hier ein Bericht von einem weiteren Schicksal. Ein Mรคdchen namens Nina wurde am 15. Mรคrz 1974 ca. 70 km vom Atomkraftwerk Tschernobyl entfernt in einer kinderreichen Familie auf dem Land in Belarus geboren. Ihre Eltern, Uljana und Iwan, konnten damals natรผrlich nicht wissen, dass sie und die Tochter auf einer radioaktiv verseuchten Erde leben werden. Aber das war spรคter. Zunรคchst lebten sie friedlich und dankten dem Schicksal fรผr dieses wunderbare Geschenk, die Geburt einer gesunden Tochter. Sie war das 5. Kind in der Familie und die Eltern verbanden mit ihr die Hoffnung auf ein versorgtes Alter. Nina wuchs als aufgewecktes, kluges Mรคdchen auf. Mit sieben Jahren kam sie in die Schule, bekam gute Noten. Das freute selbstverstรคndlich ihre Eltern.
Zum Zeitpunkt des atomaren Unfalls ging Nina in die 5. Klasse. Zum ersten Mal erfuhr sie davon am 1. Mai aus dem Radio, es wurde lediglich die Tatsache erwรคhnt, dass eine Explosion stattgefunden hat, ohne Kommentar. Damals hatte noch nie jemand vor Ort von der Stadt Tschernobyl, geschweige denn der recht nahen Entfernung zum AKW gehรถrt. Nina konnte das alles nicht verstehen und war vรถllig durcheinander.
Folgende Ereignisse blieben ganz klar in ihrem Gedรคchtnis: Es wurde verboten, Lebensmittel aus dem eigenen Gemรผsegarten zu essen (Kartoffeln, Milch, Obst, Beeren und Pilze). Dafรผr konnte man plรถtzlich viele Produkte des tรคglichen Bedarfs, die sonst nur selten die leeren Regale in den Lรคden zierten, kaufen: Es gab eine Unmenge von Fischprodukten, Orangen, Wassermelonen, Milchkonserven, Konserven aus Bulgarien und so weiter. Damals konnten viele Kinder zum ersten Mal Bananen kosten. Alles war auch sehr preiswert und zu aller Erstaunen luftdicht verpackt. Auch Trinkwasser sollte man nur als gekauftes Mineralwasser konsumieren.
Im Sommer 1986 kamen dann deutsche รrzte ins Dorf. Sie fuhren groรe Autos und waren mit verschiedenen Apparaturen ausgestattet. In Spezialkleidung haben die deutschen Fachkrรคfte erst die Gegend und danach auch die Bevรถlkerung untersucht. Sie hatten auch Medikamente dabei, die sie kostenlos verteilten. Nina hatte Probleme mit der Schilddrรผse, sie bekam rechtzeitig entsprechende Medizin von einem der รrzte des befreundeten Landes und konnte so ohne schwere gesundheitliche Folgen bleiben.
Es wurde erzรคhlt, dass nur wenige Kilometer von ihrem Dorf entfernt groรe Gruben ausgehoben wurden, in die ganze Gebรคude eingegraben wurden. Die kommunale Verwaltung legte der Landbevรถlkerung nahe, die kontaminierte Zone zu verlassen und in weniger betroffene Gebiete umzusiedeln. Und so verlieรen die Eltern des Mรคdchens nach drei Jahren ihre Heimat und zogen nach Polozk.
Ninas Mama musste sehr damit kรคmpfen, ihre Heimat verlassen zu mรผssen. Die Polozker Bรผrger waren nicht sehr freundlich zu den Umsiedlern. Nach fรผnf Jahren erkrankte Mama Uljana an Lungenkrebs und starb. Der Vater kam mit dem frรผhen Tod seiner Frau nicht zurecht und starb nur einige Jahre spรคter.
Nina absolvierte ein wirtschaftswissenschaftliches Studium, das sie 1994 mit einem Diplom abschloss, obwohl sie immer schon รrztin werden wollte. Nach all den Umbrรผchen in ihrem Leben jedoch, die mit dem Umzug und den Verรคnderungen des Gewohnten einhergingen, war sie sich nicht mehr sicher und entschied sich gegen ein Medizinstudium.
In ihrem Berufsleben, trotz der nicht erfรผllten Trรคume, bewies die junge Frau schnell, dass sie eine kompetente Fachkraft ist, und auf der Karriereleiter ging es schnell voran. Nina grรผndete eine gesunde Familie, zusammen mit ihrem Mann haben sie zwei wunderbare Sรถhne erzogen.
Viele Familien, die aus der Zone um Tschernobyl kommen, sind Mitglieder der Organisation โEcho von Tschernobylโ in Polozk. Die wenigen Zusammenkรผnfte, die die Vorsitzende Nadeschda Schurowa organisiert, lassen die lange zurรผckliegende und glรผckliche Vergangenheit vor dem atomaren Gau wiederaufleben. Ganz verschiedene Menschen mit unterschiedlichsten Schicksalen, verbunden mit einem unsichtbaren Faden, genannt Tschernobyl. Diese furchtbare Wunde wird noch lange in ihren Herzen bleiben, und sicherlich nicht nur in ihrenโฆ
Vor Kurzem lernte Nina wunderbare Menschen aus Friedrichshafen kennen. Nur wenige Stunden dauerte dieses Zusammentreffen und schon fรผhlte man die Herzlichkeit und Empathie im Umgang miteinander. Grenzenlos dankbar sind wir den รrzten, die seinerzeit in die kontaminierte Zone gereist sind, um der Landbevรถlkerung zu helfen. Und besonders dankbar sind wir unseren Freunden aus der Partnerstadt Friedrichshafen fรผr die langjรคhrige Freundschaft und ihre Herzlichkeit.
รbersetzung aus dem Russischen am 07.04.2021 – Nelly von Branconi
Tschernobyl โ unser Leid
Jeder lebt sein eigenes Leben. Und man merkt kaum, wie die Jahre vergehen, dem Weg des Schicksals folgend. Wir denken nicht daran, dass es Glรผck ist, einen Tag lรคnger leben zu dรผrfen. Und was fรผr ein Glรผck das ist, barfuร รผbers Gras zu laufen, saubere Luft zu atmen, ohne Bedenken Quellwasser zu trinken, Beeren und Pilze im Wald zu sammeln.
Bis all das plรถtzlich, unwiederbringlich verloren geht.
Der April 1986 war selten sonnig. Noch wintermรผde freuten sich die Menschen รผber die Wรคrme und das frische Gras, geschรคftig eilten sie, die รผblichen Vorbereitungen zu den Maifeiertagen standen an: Gemรผsesetzlinge heranzรผchten, Vorgรคrten und Hรถfe aufrรคumen. Keiner ahnte, dass der Countdown begonnen hatte. Der 26. April 1986 gilt seither als der Tag der furchtbarsten Atomkatastrophe in der Weltgeschichte des Menschen.
Die Explosion des Kernreaktors in Tschernobyl, Ukraine, breitete ihren schwarzen, radioaktiv verseuchten Flรผgel รผber den sรผdlichen Teil unseres Landes aus und beeintrรคchtigte das Leben jedes 5. Bรผrgers von Belarus. Rem, Rรถntgen, Cรคsium und Strontium, Geigerzรคhler und Curie โ diese Begriffe dominierten lange Zeit den Alltag, grausame strikte Verbote schrรคnkten Wรผnsche ein und machten Plรคne zunichte.
35 Jahre spรคterโฆ
35 lange Lebensjahre nach Tschernobyl. Die Zeit heilt, sagt man. Sagt manโฆ Kann sie denn die radioaktiv verbrannte Erde neu zum Leben erwecken, die Menschen wieder in ihre Hรคuser zurรผckkehren lassen, dahin, wo ihre Herzen und Seelen geblieben sind, in der geliebten Heimat, wo die Herzensblumen im Gรคrtchen blรผhen, nun รผberwuchert von Gras und Gestrรผppโฆ
Am 26. April 1986 wollte ich mit meinen Tรถchtern in den Wald, um blaue Schneeglรถckchen zu sammeln, wir lieben diese Waldblumen sehr. Mein Bruder rief an: โHast Du die Notiz รผber den Unfall in Tschernobyl gelesen?โ โHabe ich. Tschernobyl, wo ist das. Weit weg.โ
Keiner wurde informiert. Einige Tage nach der Havarie gingen alle wie jedes Jahr zur Kundgebung am 1. Mai, niemand ahnte, dass es gefรคhrlich ist, sich den Sonnenstrahlen auszusetzen.
Irgendwann teilte man uns mit, dass wir nicht auf Gras laufen, keine Sauerampfer sammeln, keine Milch trinken dรผrfen. Dann erst haben wir verstanden, dass etwas Schreckliches passiert ist.
In den Supermรคrkten gab es nur leere Regale. Keine Waren in der Auslage. Dann gab es Milch mit einem Schild daneben: โ100 g pro Tag/Erwachsenenโ. Manchmal gab es Speck und Eier. Fรผr Kinder gab es nichts zu essen, am 20. Mai begann ihre Evakuierung in nicht verseuchte Gebiete. Als keine Kinderstimmen mehr zu hรถren waren, wurde es richtig gruselig. Fรผr Kinder wie Erwachsene war dies eine traumatische Zeit. Ich arbeitete damals in der Transportbranche, wie auch mein Mann.
Am Anfang, da hatten wir das Gefรผhl, nichts ist passiert, die Radioaktivitรคt riecht nicht, sie ist auch farblos, mit den Augen nicht zu erkennen. Eines Tages war ich bei Regen unterwegs. Der warme Frรผhlingsregen war fatal. Im November 1986 musste ich in die Klinik nach Moskau mit einer Krebserkrankung. Der behandelnde Professor sagte: โSie sind noch nicht weggezogen. Denken Sie an Ihre Kinder.โ Da entschied mein Mann: โWir ziehen um.โ Und er fuhr allein nach Polozk, um zu arbeiten und eine Wohnung fรผr uns alle zu bekommen, wir wohnten damals immer noch in der Region Gomel.
Durch Tschernobyl wurde nicht nur unsere kรถrperliche Gesundheit beeintrรคchtigt, auch die Seele litt. Menschen fuhren weg und verlieรen alles, was sie sich vorher jahrelang erarbeitet hatten. Sie hinterlieรen Erinnerungen, lieb gewonnene Hรคuser, Andenken und Grรคber der Vorfahren. Was ist mehr wert als die Heimat?
Die Polozker Organisation โEcho von Tschernobylโ ist 1992 gegrรผndet worden. Derzeit sind es 70 Familien, die wir zu unseren Mitgliedern zรคhlen dรผrfen. Das gemeinsame Unglรผck eint uns, wir sind sozusagen verwandt. Wir haben viele gute Freunde kennengelernt. Wenn wir unter uns sind, dann ist es die Vergangenheit, derer wir gedenken. Leider verstehen nicht alle unser schweres Schicksal. Wie kann man Menschen, die zum Glรผck keine radioaktive Wolke erdulden mussten, erklรคren, dass durch die Explosion im 4. Kernreaktor von Tschernobyl am 26. April 1986 die Gesundheit jedes 5. Bรผrgers von Belarus beeintrรคchtigt wurde. Und dieser grausame Schicksalsschlag ereilte nur diejenigen, die zufรคllig in der Windrichtung der radioaktiven Wolke lebten.
Jedes Mitglied unserer รถffentlichen Organisation โEcho von Tschernobylโ schรคtzt die materielle und moralische Unterstรผtzung der Freunde aus Friedrichshafen und ist sehr dankbar dafรผr. Sie haben uns geholfen, unsere Position in der Stadt Polozk vehementer zu vertreten, sie haben fรผr unsere Mitglieder Vitamine und Kleidung gespendet, uns eure Freundschaft geschenkt. Als Vorsitzende der Organisation bin ich allen Mitgliedern vom Freundeskreis dankbar fรผr die umfangreiche Arbeit, die fรผr die Unterstรผtzung unserer Familien erforderlich war.

Viele Mitglieder unserer Organisation โEcho von Tschernobylโ sind nicht mehr unter uns, jedoch gedenken wir ihrer, in unseren Erinnerungen leben sie weiter. Jedes Jahr, am Tag des Gedenkens an die Tschernobyl-Tragรถdie, am 26. April รผberlassen wir einen Kranz dem Fluss West-Dwina, um derer zu gedenken, die nicht mehr bei uns sind, und nach einer Schweigeminute werden die Namen der bereits verschiedenen Mitglieder verlesen.
Hier, an der Dwina, begrรผรen wir die Sonne frรผh am Morgen.
Auch Sonnenuntergang ist wunderschรถn.
Und immer, wenn wir uns treffen hier, am Fluss,
die Amseln sollen singen uns ihr Lied.
Tschernobyl hinterlรคsst eine tiefe Wunde in der Geschichte meines Landes und auch bei mir. Das sagt viel vor allem รผber die Menschen, die durch einen Schicksalsschlag zu โUmsiedlernโ wurden oder, wie hier รผblich, โTschernobylzyโ (โdie aus Tschernobyl geflohenenโ โ Anm. d. รbers.) genannt werden. Tief in ihre Herzen hinein greift das Leid des 26. April 1986. Die Katastrophe von Tschernobyl hat deutlich mehr Opfer gefordert, als die Atombombe in Hiroshima.
Wir sind sicher, dass die Herzen unserer Freunde aus Friedrichshafen: Ruth Lauber-Bรคrenweiler, Andrea Kerler-Wicker, Elvira und Wilhelm Mรผller, Alfred Stopper, Rotraut Binder und viele andere, die uns schon immer aus voller รberzeugung unterstรผtzt, mit uns mitgefรผhlt und Leid geteilt haben, auch weiterhin im Einklang mit unseren Herzen schlagen werden; und mag die Entfernung noch so groร sein, sie wird niemals ein Hindernis darstellen.
Herzliche Grรผรe
Nadeshda M. Zhurowa
Vorsitzende โEcho von Tschernobylโ
Hinweis zum Lesebuch: Polozk – Gibt es da auch einen Urwald? S. 100 ff.
Mythen รผber Tschernobyl im Faktencheck
Belarus startet sein erstes Atomkraftwerk